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Diagnostik der Lese-Rechtschreibstörung

Die Diagnostik der Lese-Rechtschreibstörung erfolgt „auf der Grundlage eines individuell angewendeten standardisierten Testverfahrens“ (Dilling et al. 2010: 298) zur Überprüfung des Lesens und Rechtschreibens. Die Lese- und Rechtschreibleistungen „müssen unter dem Niveau liegen, das aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der Beschulung zu erwarten ist“ (ebd.). Die Lese-Rechtschreibstörung wirkt sich auf Schulleistungen und andere Aktivitäten des täglichen Lebens aus, welche Fertigkeiten im Lesen und Rechtschreiben erfordern (vgl. Warnke 1996: 27).

Aufgrund verschiedener Testverfahren zur Feststellung der Intelligenz kann es, laut Warnke (1996), zu ungleichen Einteilungen kommen. Dies schaffe Raum zum Infragestellen der Diagnostik der Lese-Rechtschreibstörung. Aus klinischer Sicht darf es jedoch nicht sein, so Warnke (1996) weiter, dass das Vorhandensein einer folgenreichen Beeinträchtigung nicht anerkennt wird, weil diese nicht mittels begrifflich entwickelten Eigenschaften messbar ist. Sonst ließe sich für etliche psychische Störungen, unter anderem die Schizophrenie, keine Diagnose stellen, weil diese aufgrund ihrer Einmaligkeit nicht durch objektive, standardisierte Tests fassbar sind (vgl. ebd.).

Die Diagnostik ergibt sich nicht ausschließlich aus dem Verhältnis zu den Lese- und Rechtschreibtestwerten und den Intelligenztestwerten. Das diagnostische Vorgehen wird aus der nachfolgenden Tabelle ersichtlich:

 

Basisdiagnostik


Zusatzdiagnostik


 

1.      Leseprüfung,   zum Beispiel Züricher Lesetest

2.      Rechtschreibprüfung,   zum Beispiel standardisierte Rechtschreibtests

3.      Buchstabenlesen

4.      Buchstabendiktat

5.      Abschreiben   von Wörtern und Texten

6.      Zahlenlesen

 


 

1.      Intelligenzdiagnostik

2.      Sprachentwicklungsdiagnostik

3.      Diagnostik   weiterer Teilleistungsbereiche: Motorische Entwicklung, Visuomotorik, Konzentration

4.      Internistische   und neurologische Untersuchung, zum Beispiel Seh- und Hörfunktion, Ausschluss   einer Zerebralparese[1]

5.      Anamnese   und Exploration


Tabelle 01: Diagnostik der Primärsymptomatik der Lese-Rechtschreibstörung nach Niebergall (1987) (Warnke & Roth 2000: 460).

 

Für die ärztliche Bestimmung der Lese-Rechtschreibstörung sowie den sozialrechtlichen Begutachtungsfall bewährt sich die nachkommende Vorgehensweise. Diese wird nach Warnke (1996) sowie Warnke und Roth (2000) zusammengestellt. Das Gutachten eines Arztes ist zwingend erforderlich. Für eine Bestimmung der Lese-Rechtschreibstörung muss die ärztliche Prüfung sowohl eine zerebralparetische Unstimmigkeit, eine Hör- und Sehbeeinträchtigung als auch einen anderen motorischen Fehler der Graphomotorik ausschließen (vgl. Warnke 1996: 29).

 

Anamnese/ Exploration

Diagnostisch entscheidend ist das Befragen von Eltern und Lehrern zum Entwicklungsgang des Kindes und vorwiegend seiner Lese-Rechtschreibentwicklung sowie seinen anderen schulischen Erfahrungen. Sowohl Eltern als auch Lehrkräfte nehmen im ersten Schuljahr die Lese-Rechtschreibschwierigkeiten des Kindes wahr. Im zweiten Schuljahr verstärken sich dann die Probleme und es entsteht immer mehr der Verdacht der Lese-Rechtschreibstörung. Ein Versagen beim Vorlesen oder im Diktat kann meist nicht verhindert werden, trotz intensiver Hausaufgabenbemühungen und gesonderter schulischer Förderung. Ab dem dritten Schuljahr werden in der Regel Aufsatz- und Diktatnoten vergeben. Es wird deutlich, dass die Leistungen des beobachteten Schülers nicht ausreichend genug sind. Für die Diagnostik ist ausschlaggebend, dass der Schüler beim Rechtschreiben und Lesen des Wortes scheitert. Die Auflösung des Wortes in einzelne Buchstaben oder Laute und die Zusammensetzung der Buchstabenfolge zu einem Wort misslingt diesem Kind. Durchaus können im ersten Schuljahr Zahlen-, Wörterlesen und Abschreiben von Texten oder einzelnen Wörtern fehlerhaft sein, bestimmend ist hier jedoch das Versagen im Rechtschreiben und Lesen eines Wortes. Die legasthenen Kinder erlernen größtenteils das Lesen, obwohl dies verlangsamt und in einigen Fällen sogar bis in höhere Klassenstufen hinein stockend und fehlerhaft bleibt. Das Bewerten der in Tabelle eins vorkommenden Leistungen bezieht sich auf Schultyp-, Klassen- und Altersnormen (vgl. Warnke 1996: 28; vgl. Warnke & Roth 2000: 460).

 

Warnke und Roth (2000) sind der Ansicht, dass sich die Diagnostik durch nachfolgende Merkmale zusätzlich stützen lässt:

 

1.    im Vorschulalter: unauffällige soziale/ psychische Entfaltung, Fehler in der visuomotorischen Koordination, Sprachauffälligkeiten,

2.    Zusammenhang zwischen Schulunlust, psychosomatischen Beschwerden und psychischen Krankheitszeichen oder Lernleistungsängsten im Verlauf der Schulzeit,

3.    eine körperliche und psychische Erholung in den Schulferien, Wiederkehren der Anzeichen in der Schulzeit, außerdem

4.    eine Abweichung der Lese- und Rechtschreibleistung zu anderen schulischen Leistungen und Alltagsfähigkeiten des Schulkindes (vgl. Warnke & Roth 2000: 460).

 

Psychometrisches Gutachten 

Die Psychodiagnostik beinhaltet vorwiegend die psychodynamische Betrachtungsweise der familiären Interaktion. Bei Bedarf prüft diese testdiagnostisch nach anderen Teilleistungsschwierigkeiten, beispielsweise im Bereich der Wahrnehmung, der Konzentration oder der Sprache. Zu analysieren gilt außerdem die Hausaufgabensituation des Kindes und seine unter Umständen vorhandenen psychischen Begleitstörungen. Das Wissen über die Strategien des Kindes und seiner Eltern, welche über die Lese-Rechtschreibstörung des Kindes hinweghelfen, ist hilfreich. Ebenfalls aufschlussreich sind die bislang unternommenen Versuche des Kindes Lernfortschritte zu erzielen. Die Untersuchung der Lese-Rechtschreibstörung richtet sich nach der durchschnittlichen Lese- und Rechtschreibentwicklung. Therapeutisch hilfreich kann eine Betrachtung der Fehlertypologie mittels der normierten Lese- und Rechtschreibtests sein. Die Prüfung der Intelligenz sowie die standardisierten Tests im Lesen und Rechtschreiben vervollkommnen Anamnese und Exploration (vgl. Warnke 1996: 29; vgl. Warnke & Roth 2000: 460 f.).

Das Versagen im Aneignen des Rechtschreibens und/ oder Lesens wird als das Leitsymptom betrachtet. Zur Unterstreichung dieses Leitsymptoms dienen sowohl die Auffassungen von Lehrern und Eltern, als auch Zeugnisse und Arbeitsmaterialien des Kindes. Rechtschreiben und/ oder Lesen wird als mangelhaft oder ungenügend benotet (vgl. Warnke & Roth 2000: 461).

Ausschlussdiagnosen

Eine Lese-Rechtschreibstörung darf keinesfalls aus einer erworbenen zerebralen Beeinträchtigung stammen, welche gegebenenfalls ein Verlieren der zuvor erworbenen Fertigkeiten im Lesen und Rechtschreiben zur Folge hätte. Außerdem darf die Lese-Rechtschreibstörung sich nicht aus einer ursprünglichen seelischen Unstimmigkeit, organischen Erkrankung, Sinnesbehinderung oder ungenügenden Schulförderung entwickeln (vgl. ebd.).

Rückversicherung der Diagnosekriterien 

Nach Warnke und Roth (2000), sollte das Prüfen in einem Lese- und Rechtschreibtest einen Prozentrang von etwa weniger als zehn Prozent ergeben. Parallel dazu darf der Intelligenzquotient nicht unter 70 Intelligenzquotientenpunkten liegen und muss sich cirka anderthalb Standardabweichungen über dem Testwert im Lesen und Rechtschreiben befinden. Gemäß dieser Bestimmung besteht eine Lese-Rechtschreibstörung oder eine isolierte Rechtschreibstörung (vgl. ebd.).

 

Folgende Verfahren werden für die Intelligenztestung verwendet: der „Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Kinder in der revidierten Form (HAWIK-R), Kaufman-Assessment Battery for Children (K-ABC), Adaptives Intelligenzdiagnostikum (AID)“ (ebd.) sowie der Culture Fair Intelligence Test eins und 20 (CFT 1, CFT 20). Werden bei dem CFT 1 oder CFT 20 Testwerte im unteren Durchschnittsbereich ermittelt, also einem Intelligenzquotienten von 85 bis 95, bietet sich eine Kontrolle mit den Methoden HAWIK-R, K-ABC oder AID an. Mit diesen Verfahren kann eine verminderte Intelligenz ausgeschlossen werden. Die Betrachtung der Sprachentwicklung umfasst eine orientierende Überprüfung des Wortschatzes, der Artikulation, der phonematischen Bewusstheit und der auditiven Wahrnehmung. Darüber hinaus wird die Konzentration, die Visuomotorik und die motorische Entwicklung zur Ausrichtung erfasst (vgl. ebd.).

Die neurologische und internistische Analyse sollte eine Elektroenzephalographie (EEG) beinhalten, damit beispielsweise ein Epilepsieverdacht oder eine Zerebralparese ausgeschlossen werden können. Liegen Hinweise auf eine Störung in der Sprachentwicklung vor, ist eine Hörprüfung ratsam. Die Sehfunktion sollte bei einem Augenarzt stets überprüft werden (vgl. ebd.).

Eine Erklärung über die Behinderung der psychosozialen Anpassung wegen der Lese-Rechtschreibstörung bildet den Diagnoseschluss. Außerdem beleuchtet dieses Gutachten, inwieweit ein zusätzlicher außerschulischer Förderbedarf besteht. Des Weiteren wird geprüft, „inwiefern die Eingliederung des Kindes gefährdet ist, so dass unter Umständen seitens des Jugendamtes darüber entschieden werden kann, ob die Kriterien zur Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII erfüllt sind“ (ebd.). Wenn ein Kind aufgrund seiner Lese-Rechtschreibstörung sozial beeinträchtigt wird, kann über das Jugendamt eine Lerntherapie finanziert werden. Die Genehmigung dieser Anträge wird jedoch bisher leider nur in schwerwiegenden Fällen vorgenommen. Gemäß den gesetzmäßigen Anordnungen entscheidet das Jugendamt über die Wahl der außerschulischen Förderung und setzt häufig Therapiestundensätze fest (vgl. ebd.; Herv. d. d. Verf.).


 

[1] Zerebralparese: Haltungs- und Bewegungsstörung durch eine Missbildung oder Verletzung des kindlichen Gehirns (Hirnschaden) (vgl. http://www.medtronic.de/ erkrankungen/zerebralparese/index.htm [12.11.2010]).