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Genetische Erklärungsansätze


 

Eine Begründung für die Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten offenbaren beeinträchtigte Lern- oder Informationsverarbeitungsprozesse. Nach der gegenwärtigen Auffassung bilden die genetischen Faktoren, die sich auf die Entwicklung des Nervensystems auswirken, eine Grundlage für diese Schwierigkeiten (vgl. Warnke 1996: 30).

Warnke (1996) führt Familienstudien an, welche auf Stammbaumanalysen beruhen, die eine familiäre Häufung der Legasthenie erkennen lassen. Hierbei zeigt sich, dass die Lese-Rechtschreibstörung über drei Generationen hinweg übertragen werden kann. So liegt die Häufigkeit der Lese-Recht-schreibstörung bei Verwandten ersten Grades zwischen 30 und 60 Prozent. Hat ein Elternteil Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben, dann liegt die Wahrscheinlichkeit bei 30 Prozent, dass das Kind ebenfalls eine Lese-Rechtschreibstörung bekommt. Für ein legasthenes Kind bedeutet dies, dass bei seinen Eltern zu 22 bis 32 Prozent und bei seinen Geschwistern zu 45 bis 55 Prozent ebenso eine Lese-Rechtschreibstörung vorliegt (vgl. ebd.).

Die Familienstudien allein reichen allerdings nicht aus, um von einem genetischen Einfluss ausgehen zu können. Gemäß Schulte-Körne (2004), gestattet erst die Gegenüberstellung von eineiigen und zweieiigen Zwillingen eine Bewertung der genetischen Disposition. Schulte-Körne (2004) erwähnen Zwillingsstudien, welche hinreichend die erhöhte Symptomatikübereinstimmung bei eineiigen Zwillingen belegen. Der genetische Einfluss für die Lesestörung liegt bei 50 Prozent, für die Rechtschreibstörung bei 60 Prozent (vgl. Schulte-Körne 2004: 72).

     

Beckenbach (2000) ist der Ansicht, dass die Lese-Rechtschreibschwierigkeiten hauptsächlich anscheinend durch die Beschädigung der Chromosomen sechs und 15 verursacht werden. Denn beim Untersuchen lese-recht-schreibschwacher Familienmitglieder wurden auf diesen Chromosomen Bruchpunkte gefunden. Außerdem besitzen einige legasthene Familienangehörige eine schwere Sprachentwicklungsstörung. Das Chromosom 15 trägt die Disposition zum ganzheitlichen Wörtererfassen. Das sogenannte Ganzwortlesen drückt aus, dass ganze Wörter gespeichert und später wiedererkannt werden mittels eines mentalen Wörterverzeichnisses, welches den Ausgangspunkt zur Entwicklung des künftigen orthographischen Wörterbuchs formt. Auch dem Erbträger Chromosom sechs wird zugeschrieben, dass es das Lernen des Lesens und Rechtschreibens beeinträchtigt. Das Chromosom sechs ist außerdem mit der Veranlagung zur phonologischen Bewusstheit gekoppelt. Die Fähigkeit, einem Buchstaben einen Sprachlaut zuteilen zu können, ist genetisch determiniert. Diese Handhabung muss jedes Schulkind noch vor dem Lesenlernen oder auch später zum Auflösen unbekannter Wörter anwenden (vgl. Beckenbach 2000: 134). Beckenbach (2000) führt genetische Befunde auf, die sich so erklären lassen, dass es Erbfaktoren mit Bruchpunkten gibt, welche die Sprachentwicklung und die Lese-Rechtschreibstörung erheblich beeinflussen. Für den Lesefortschritt ist der Ausbau der phonologischen Anlagen besonders betroffen. Die fehlerhaften Erbfaktoren werden, vermutet Beckenbach (2000), autosomal dominant vererbt. Das heißt, dass diese beschädigten Gene sich nicht auf einem Geschlechtschromosom befinden und sich bei der Bildung neuer DNA-Ketten gegenüber den fehlerfreien, komplementären Erbmerkmalen durchsetzen. Die genetische Disposition zur Lese-Rechtschreibstörung geht demzufolge, ohne zu unterbrechen, durch Generationen hindurch. Ein Familienmitglied ohne diesen Gendefekt muss demnach über zwei Elternteile verfügen, die keine Bruchpunkte auf den Chromosomen sechs oder 15 besitzen (vgl. ebd.).